Musikalische Vielfalt und beeindruckende deutsche Texte
BERLIN (gc) – Auf der Bühne des Corbo in Treptow, gleich hinter der Grenze zum szenelastigen Nord-Neukölln, stellten sich am Freitag beim Wettbewerb um den Nachwuchspreis des Chansonfestes die sechs Finalisten der Jury und dem Publikum. Es ging um vier Preise: drei mit Preisgeldern und Auftrittsmöglichkeiten dotierte Jury-Preise und einen Publikumspreis. Die erfahrene Chansonniere Tanja Ries, die nach eigener Aussage selbst noch nie an einem Wettbewerb teilgenommen hat, führte durch den Abend. Angenehm ruhig und konzentriert hat sie die notwendigen Umbaupausen überbrückt.
Dieses Finale – insofern, als die Jury ja aus den vielen Bewerbungen schon eine Vorauswahl getroffen hatte – eröffnete das Ensemble „Leopard“. Simon Wöhr und Bastian Kaletta haben sich mit Raphael Kaletta verstärkt. Aus E-Gitarre, Kontrabass und Percussion lassen sie ihre Klänge entstehen. Mal rhythmisch betont, mal rau und mal zart melodiös haben sie ihre dichten Texte vertont. Gerade heraus und ohne Verrenkungen ist der Gesang zu den Stücken, die eine Verbindung von Pop und Chanson eingehen.
Deutlich experimentierfreudiger dagegen: Erna Schmidt. Am Klavier sitzend, treibt sie ihre Stimme in bedrohlich hohe und tiefe Lagen. Eine unglückliche Liebesgeschichte grölt sie sich in „Schon beim ersten Kuss“ geradezu aus dem Leib. In musikalisch minimalistischer Form und mit einer guten Portion Sarkasmus rechnet sie im „Kadenzlied in C-Dur“ mit einer anderen gescheiterten Liebe ab. Erna Schmidt kann für das Publikum sowohl anstrengend als auch eingängig sein. Beides gleichzeitig in einem nur viertelstündigen Auftritt darzustellen, konnte einfach nicht klappen.
Die größte Combo im Finale war „Generat“, besteht sie doch aus fünf Musikern und der Frontfrau Kathy Kreuzberg. In harten Rock-Rhythmen beschreiben sie einen Abend in der Kneipe und besingen die Endlichkeit des Lebens. „Generat“ zelebriert in aller Ruhe eine tief-traurige Ballade und lässt dabei die düsteren Klänge immer lauter werden. Expressiv in Text und Darstellung füllen sie erst die Bühne, um dann den Saal zu erobern. Kathy Kreuzberg, gekleidet im schwarzen Herrenanzug und in „Cabaret“-Manier geschminkt, singt nicht nur die Stücke, sondern begeistert an einigen Stellen mit regelrechten Choreographien. Die starke Bühnenpräsenz und die in diesem Finale einmalige Kombination aus Rock und Chanson beeindrucken nachhaltig. Schade, dass sich „Generat“ weder bei der Jury-, noch bei der Publikumsentscheidung durchsetzen konnte.
Um hier zwischendrin noch einmal schnell Klarheit zu schaffen und den Überblick nicht zu verlieren: Das Finale erstreckt sich über zwei Runden, die an zwei Tagen ausgetragen werden. Am ersten Tag, dem Freitag, haben alle sechs von der Jury nominierten Künstler sich mit kurzen Auftritten von einer Viertelstunde präsentiert. Die Zuschauer dieses Abends haben im Anschluß die Gewinnerinnen des Publikumspreises gewählt: Das Duo Hand in Hand – Annett Lipske und Beate Wein.
Der Jury, die ja bis dahin nur CDs bzw. Demotapes beurteilen konnte, dient diese erste Kurzvorstellung dazu, ihre Auswahl einzuschränken, damit sie am zweiten Abend, der zweiten Runde dieses Finales, durch längere Auftritte einen besseren Eindruck bekommt, um dann die Staffelung der drei Preise – Raben in Gold, Silber und Bronze – festlegen zu können. Diese Chance erhielten: Hand in Hand, Helikon und Anna Piechotta.
Moderatorin Tanja Ries nannte den leider viel zu schwachen Publikumsandrang am Samstag lakonisch einen „exklusiven Kreis“. Doch davon ließen sich die Künstler nicht irritieren. Beate Wein vom Duo Hand in Hand nahm den Ball sofort auf und freute sich, in so kleiner Runde auch einmal persönlich werden zu können. Zusammen mit ihrer Partnerin Annett Lipske begann sie entspannt plätschernd eine poetische Sehnsuchtsbeschreibung: „1000 Tage Regenzeit“.
Doch schon im nächsten Stück peitschten dem Zuhörer die Rhythmen nur so um die Ohren: „Da lang gehen“ sollen sie, denn: „Ich bin so richtungslos / Ich brauch ein Richtungslos.“ Der Song „Back to Deck“ schildert drastisch rockig die manchmal leidigen Seiten der Mutterschaft. Sprachspielerisch schlendern die beiden durch ihren Auftritt und laden zum Mitwippen ein.
Lebendigkeit und Spielfreude prägen den Auftritt des Duos „Hand in Hand“. Aus einem kleinen Percussion-Ensemble und einem Fender Rhodes zaubern sie den Sound für ihre Stücke. Sie nennen es „Straßenswing, Barfußbossa und Firlefunk“. Ohne Mühe singen sie mal herrlich leichte, mal dichte und großartige Liebeserklärungen. Und mit ihrem Lied „soja“ kreieren sie das neue Genre des vegetarischen Chansons. Einfach mitreißend!
Schwarze Pädagogik im kleinen schwarzen Abendkleid präsentiert dagegen die Sängerin und Pianistin Anna Piechotta. In ihrem „Schlaflied für Eltern“ empfiehlt sie, den Kindern von bösen und zerstörerischen Geistern zu berichten, die sofort aktiv würden, wenn die Kinder nicht einschliefen. Stimmgewaltig und augenzwinkernd singt sie am Klavier von ihrem ersten Opernbesuch und spart nicht an Seitenhieben auf das Regietheater.
Fein perlen die Töne in „Ein Duett“, einer Liebesgeschichte, die wegen bestehender Unordnung und mangelnder Kochkünste erst gar nicht zustande kommt. Gekonnt bringt Anna Piechotta den Jazz-Gesang ein, wenn sie vom „Produzenten“ singt, der sie ganz groß herausbringen will. Sie weiß aber auch mit klassischen Chansonakkorden umzugehen, wenn sie im „Schatten“ voller Sehnsucht dahinschmachtet. Hintergründig blickt sie schließlich auf „Mein Dorf“, einer Hymne auf das Dorfleben, das sie eigentlich nicht missen möchte. Mit hintergründig-witzigen Texten und klarer Darstellung konnte Anna Piechotta die Jury für sich einnehmen.
Die Gruppe Helikon strahlt dagegen Ruhe aus. Sehr konzentriert tritt Frontfrau Anne Otto mit Gitarrist Jochen Schmadtke und Bassist Simon Fröhlich ins Rampenlicht. Fast scheint es ihr unangenehm, jetzt alle Blicke auf sich zu vereinen. Dichte Texte prägen den Auftritt: „Flugzeuge“ beschreibt Gemeinsamkeiten in einer Beziehung, ganz ruhig im Stil der Hamburger Schule begleitet. Über den Unterschied zwischen wirklichem und so bezeichnetem Glück macht sie sich in „Wer hat schon Angst vor IKEA“ Gedanken.
Die Ernsthaftigkeit der Texte fällt auf. Und die Tatsache, dass Helikon ohne Showeffekte arbeitet. Leise Musik und hintergründiger Text stehen im Vordergrund. So schaffen sie beim Publikum eine sehr konzentrierte Atmosphäre. Mit „Ticket für zwei“ laden sie zum Träumen und Schweben ein. Anne Otto verzaubert geradezu mit ihrem an Annett Louisan erinnernden Gesang. In „Stumme Detektive“ lässt sie eine Beziehung beginnen und im „Karussell“ beschreibt sie die auf ewig bestehende enge Verbindung zwischen Eltern und Kindern. Alles bewegt sich zwar, aber es bewegt sich in gleicher Richtung, gleichem Abstand und gleicher Geschwindigkeit. Der entspannende Chanson-Pop von „Helikon“ hat den ersten Preis, den Goldenen Raben wahrlich verdient.
Der Silberne Rabe ging an das Duo Hand in Hand, der Rabe in Bronze an Anna Piechotta.
Warum die Preise Raben sind? Weil der Theatername Corbo eine Verballhornung des französischen Worts ‚corbeau‘ = Rabe der frankophilen Betreiberinnen ist.
Gilles Chevalier © 2011 BonMot-Berlin
Am Donnerstag, 27. Oktober, geht das Chansonfest Berlin dann weiter.
Wer das im Corbo miterleben möchte – und das ist eine echte Empfehlung – sollte den Weg nach Alt-Treptow nicht scheuen – so weit ist der dann auch wieder nicht! – und sich ganz schnell Karten reservieren: Tel. 030-53 60 40 01
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