„Einer weniger zu sein, ist auch wichtig“: Phoenix spreizt die neuen Federn

NIEDERSTETTEN (ib) – Sechs mal gastierte „Ars Vitalis“ in Niederstetten. Das Trio Klaus Huber, Buddy Sacher und Peter Wilmanns war längst auch für diese Saison fest eingeplant. Zum Jahreswechsel starb Klaus Huber, der Schlagzeuger der Truppe, die sich 1979 gefunden hatte und sich zum Gesamtkunstwerk wider alle Genregrenzen auswuchs.
Der Schock sitzt tief. Klaus Huber, Schlagzeuger und so nur „ganz selten zu findendes anarchistisches Element und Temperament“ (Norbert Bach, Kulturamtsleiter Niederstetten), fehlt. Die Folge: „Ars Vitalis“ ist nicht mehr. Zu schade. Und völlig logisch: Kunst dieser kongenialen Art ist nicht ersetz- und fortführbar.
Was aber nicht das Aus für den speziellen Knochenbau des unikaten Trios, das jetzt zum Duo wurde, bedeutet. Bach war es, der anfragte, ob die beiden Hinterbliebenen des Trios nicht wenigstens mit einer Lesung kommen könnten. Schließlich gebe es da doch die „Freie Sicht auf die Ambiente“, den kosmischen Vogelführer aus der Feder von Reinhard Josef Sacher…

Seit Mitte Januar bauten Sacher und Wilmanns, jetzt als „Das Wüste Gobi“, in nicht einmal sechs Wochen die Lesungsidee aus – zum vollwertigen Programm. In Niederstetten spielten sie das zum allerersten Mal vor Publikum: Weder für eine Vorpremiere noch überhaupt für irgendeinen Text vor Zuschauern war Zeit und Nerv geblieben.
So was kann schief gehen, ganz gewaltig. Es ging nicht schief: Die aus der Not geborene Lösung ist hochkarätig, ganz ureigen und überzeugend, wie das mit 75 Gästen eher kleine Uraufführungspublikum in Niederstetten bestätigt. „Wie schön“, „wie intensiv“, „wie herrlich lächerlich“, „wie inspirierend“, lobten die Besucher schon in der Pause den philosophisch-surrealen Mix aus frei erfundenen ornithologischen Entdeckungen, Professorenvortrag, Klangcollage, Soundskulptur, Geräusch, Gestik und Mimik-Mimikri, aus Urschrei, leisem Zirpen, Nichts und Allem.
Höherer Blödsinn paart sich mit philosophischem Tiefsinn, Irr- und Aberwitz feiern Hochzeit mit Absturz und Höhenflug. Wilmanns und Sacher weben Netze um Dada und Drumdrum – ersterer über drei Jahrzehnte lang Ars Vitalis-Markenzeichen, letzterer eine ornithologische Sacher-Entdeckung, wie Schnee- und Sonnenspötter, Foliantengrasmücke und Sperlingsmöwe, das Blaue Auge und das Birkenhaarsträubchen, die Brasserie, die Rote Arme und die Sowjette. Sie alle brauchen ihr Spezialambiente, genießen, so die Verhältnisse ’s erlauben, die freie Sicht auf die Ambiente und schicken das Publikum auf die Suche nach dem roten Faden, der sich als Netz entpuppt, in dem sich Assoziationen haufenweise fangen.

Dafür brauchen die beiden Künstler Raum: Wilmanns startet auf leerer Bühne, beklagt mangelnde Vorbereitung der Lesung, schleppt Lesepult und eine Stehambiente an, arrangiert Korkenzieherhasel in der Blumenvase. Zu duster für die Lesung – ist das gewollt oder vielleicht doch ein dem abwesenden Trio-Dritten geschuldeter Zufall?
Sacher serviert seine Geschichten um die „höchst nüsternen“ Tiere, genauer „kalamischen Vögel“ mit trockenem Ernst, referiert – ganz liebenswürdiger, scheuer Professor, der jede Übertreibung bei klanglicher Begleitung mit indigniertem, geduldig leidendem Blick kritisiert – über die Foliantengrasmücke, der in Lexikon an der Südseite des Zürichsees die Bürger das erste Altersheim für Vögel errichteten. Das lässt doch jubilieren: „Oh Folio, oh Folio, das Lohmen mielt mich gar so froh!“ Schneespötter, die sich gern in der Nähe frierender Menschen aufhalten, erheben „miste Stimmen“ und singen „klake Strophen“. Ein „fauner Kobold“ ist der Sonnenschnäpper, der – leider – meist nur tot aufgefunden wird. Kurz eine Tagebuchnotiz: „Heute hübsche Sowjette gesehen. Galt sie nicht als ausgestorben?“

Wilmanns kommentiert die avifaunischen Entdeckungen mit Sarkasmus, wirft nebenbei lakonisch ein: „Einer weniger zu sein, ist auch wichtig“; und entlockt kommentierend Klarinette und Saxophon, dem „Örgelchen“ und dem Spezialumbau-Omniphon unglaubliche Vogel- und Ambiente-Töne, die er regelrecht zu Skulpturen knetet. Dädalus nutzte Wachs, um zum Flug anzusetzen. Damit der nicht zu nah an die Sonne führt, räumt Wilmanns, der zwischenzeitlich mit reichlichem Instrumentarium die Bühne gefüllt hatte, einfach die Instrumente wieder auf, das Ambiente wieder ab – verfolgt von indignierten Professorenblicken, denn es wäre noch so viel zu sagen aus der ornithologischen Wunderwelt, die das Artensterben konterkariert.
Gemeinsam setzten sie musikalische Akzente von flüsterleiser Romantik bis zum archaischen Ausbruch in der Eulenszene, in der auch der gesamte Kummer über den Verlust von Klaus Huber, den Tod von Ars Vitalis zum Ausdruck kommt – eine pantomimisch-gestisch-stimmliche Leidens-, Balz- und Kampfszene, die an Intensität kaum überbietbar ist. Schräg, schrill bis still putzt sich ein junger Phoenix das Gefieder, hebt ab, zieht erste Kreise. Es lockt „Das Wüste Gobi.“
Inge Braune
zuerst erschienen bei den Fränkischen Nachrichten – vielen Dank für die Genehmigung
die nächsten Termine:
Sa, 10. März 2012: Hachenburg, Stadthalle, Kartentelefon: 02662 – 80 11 17
Mi, 14. März 2012: Garching, Theater im Römerhof, Kartentelefon: 089 – 320 89 138
Do, 15. März 2012: Gauting, Bosco, Kartentelefon: 089 – 4523 8580
Sa, 17. März 2012: Stuttgart, Merlin, Kartentelefon: 0711 – 61 85 49
sowie auch
So, 18. November 2012: Freiburg, Vorderhaus
www.arsvitalis.de – weitere Termine hier – demnächst: www.das-wueste-gobi.de

das Buch zum Programm:
Reinhard Josef Sacher:
„Freie Sicht auf die Ambiente. Der kleine kosmische Vogelführer – Band II“
Verlag Theater Ticino Wädenswil, 148 Seiten, 22 Euro
Das in der Schweiz erschienene Buch wird in Deutschland über die Leverkusener Buchhandlung Zentral Antiquariat in Wiesdorf vertrieben
Telefon 0214 – 412 92 oder mail an info@zentral-antiquariat.de
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ich sach doch, ihr seid zu gut :-)))
gruss NUNX