Zweiter Wettbewerbstag in Sankt Ingbert – Kritik
Laminat und Wut und Mutters Witz
SANKT INGBERT (gc) – Der zweite Abend in Sankt Ingbert ist in der Geschlechterfrage ausgewogen: In der Stadthalle treten eine Frau, ein Mann und ein gemischtes Duo auf. Mia Pittroff, Till Reiners und das Duo Ball & Jabara gestalten einen großartigen Abend.
„Mein Laminat, Sabine und ich“ heißt das Programm von Mia Pittroff. Sie kommt aus Oberfanken, aus Bayreuth. Und mit jedem Satz, den sie spricht, erinnert sie daran. Ihr Dialekt könnte zum Markenzeichen werden und zusammen mit der Künstlerin die Kabarettbühnen erobern.
Dem Oberfranken sagt man gemeinhin Grobschlächtigkeit und Unfreundlichkeit nach. Mia Pittroff jedoch wirkt freundlich und bescheiden, wenn sie sagt: „Nicht ich habe das Programm geschrieben sondern meine Mutter.“ Überhaupt, die Mutter: Sie taucht immer wieder auf – als Ratgeberin, Gesprächspartnerin und als Protagonistin in Pittroffs Geschichten.
Doch man täusche sich nicht, Mia Pittroff denkt selbst und geht mutig durchs Leben. Zum Beispiel ins Wochenendseminar Buddhismus. Es findet im Winter auf einer unbeheizten Burg statt. Da geht es um das Akzeptieren des Gegenübers und den Energiekreis. Davon wird es zwar auf der Burg nicht wärmer, aber dem Zuschauer geht das Herz auf. Mia Pittroff entpuppt sich als eine Meisterin der Pausen. Auf das Angebot mitzudenken, geht man gerne ein. Die angenehm unaufgeregte Vortragsweise, die keinesfalls mit Langeweile verwechselt werden darf, tut ihr übriges.
Es sind die kleinen Themen mit der großen Wirkung, die Pittroff beschäftigen: „Der Jürgen“ ist ein Lied über einen engagierten, selbstlosen und von allen geachteten Menschen. Leider wird er zum wilden Tier, wenn jemand ein Auto in seiner Einfahrt abstellt. Oder die Frage, wie man die Gutscheine nennen soll, die man als Eintrittskarte für die Autobahntoilette kaufen muss: Pinkelbillett, Uringutschein oder Bruns-Ticket?
Pittroff wirkt traurig, als sie von dem langen Gespräch mit ihrem Freund berichtet. Die beiden haben beschlossen, sich zu trennen – vom Walnusslaminat, denn „Laminat ist wie Holzboden mit Depressionen“. Es fällt ihnen schwer, sich zu verabschieden. „Wir haben extra den schwarzen Kombi genommen, und da hat das Laminat hinten ganz friedlich drin gelegen, als wir zum Wertstoffhof gefahren sind.“ Flugs wird aus einer Einrichtungsfrage eine Familientragödie, das Laminat wird mit einer Beziehung oder einem Menschen gleichgesetzt. Und Mia Pittroff, die sich mit Krawall-Unterhaltung und den normalen Beziehungsthemen gar nicht auseinandersetzen will, liegt ein begeistertes Publikum zu Füßen.
Nomen est omen: „Da bleibt uns nur die Wut“ heißt Till Reiners‘ Programm. Seinen Auftritt in Sankt Ingbert beginnt er mit einer großen Menge Wut im Bauch über den falschen Gebrauch der Sprache.
„Der Bagle hatte früher kein Loch in der Mitte und hieß Berliner“, echauffiert er sich. Genauso kann Reiners über den Begriff „Kopfkino“ herziehen, der nichts anderes als „denken, phantasieren oder ausmalen“ ausdrücken soll. Er definiert Sprache als „gesellschaftliche Übereinkunft“, die man nicht nach Belieben verändern kann.
Gleichzeitig ist Reiners, Jahrgang 1985, ein Freund des technischen Fortschritts, der den vielen „Zukunftsverweigerern“ gehörig die Leviten liest. Das sind die Party-Besucher, die sich erst über das iphone lustig machen, um dann im weiteren Verlauf des Abends schüchtern nach der Internet-Auskunft für den Nachtbus zu fragen. Die Welt wird seiner Meinung nach nicht ständig komplexer, sie bietet lediglich mehr Entscheidungsmöglichkeiten.
Reiners liebt das Konkrete. Er redet offen, ehrlich und wahrhaftig und reißt die Zuschauer mit seinem energiegeladenen Vortrag mit. Dann wird er plötzlich ganz ruhig und gibt zu, ein „Gefühls-Epileptiker“ zu sein. Manchmal breche es eben aus ihm heraus…
Wie die Wut zu Stande kommt? Für Reiners durch die Ohnmacht, weil niemand verantwortlich ist. „Wir sind alle schuldig, aber keiner ist Schuld“, ist einer der schönsten Sätze von diesem anderen Till Reiners. Dem Ruhigen, dem Reflektierten, dem Philosophischen. Die Frage nach dem Ehrlichen treibt ihn um. Warum kann man bei einer aufgedeckten Lüge in einem Beziehungsstreit nicht einfach sagen: „Ich dosierte meine Wahrhaftigkeit nach dem Grad Deiner Empörung?“ Seinen aberwitzigen Gedankengängen folgt das Publikum gerne. Es weidet sich an dieser tollen Mischung aus philosophischer und konkreter Unterhaltung und dankt mit sehr herzlichem Applaus.
Den letzten Wettbewerbsbeitrag dieses Abends gestaltet das Duo Ball & Jabara mit Ausschnitten aus seinem Programm „Menschenskinder – Ich bin von Kopf bis Fuß auf Wickeln eingestellt“. Hier entsteht etwas für den Wettbewerb Ungewöhnliches: Ein Mini-Musical über die Leiden einer „späten Mutter“.
Franziska Ball gibt die Supermama Clara Loft und Marty Jabara den Erziehungsberater Peano Reeves am Flügel. Gemeinsam durchleiden sie die schwere Zeit, der eine Mutter mit drei Kleinkindern ausgesetzt ist.
Clara geht mit ihrem Kinderwagen und Bananen-Box, Nuckeln, Windeln und Spielzeug am Gürtel auf den Spielplatz. Sie hat in diesem Aufzug etwas von einem Einzelkämpfer, der hinter den feindlichen Linien kämpft. Nachvollziehbar, denn Clara Loft ist Mutter – und damit glücklich! Einerseits erfüllt sie ihr Hausfrauendasein, andererseits beklagt sie die fehlende Anerkennung durch die Freunde und die Gesellschaft.
Ball & Jabara vertonen in „Menschenskinder“ bekannte Melodien neu und unterstützen ihre Songs mit einigen zusätzlichen Requisiten: Clara zieht sich einen überdimensionierten Still-BH über, um „Gestern noch“ zu singen. Bei den Beatles hieß der Titel „Yesterday“, aber die sangen auch nicht über die Veränderungen der weiblichen Brust durch das Stillen. Mit einem übergestreiften Walle-Walle-Oberteil beklagt sie die fehlende sexuelle Attraktivität. Ein Tom Jones-Hit bekommt dafür einen neuen Refrain: „Sex Bomb // Der Pulli ist bekleckert // und im Haar klebt ein Bonbon.“ So farbenprächtig und gut choreographiert kann Kleinkunst sein!
Auch Sozialkritisches fehlt nicht: „Wenn man sich schon mit der eigenen Sprache schwertut, sollte man sich überlegen, ob man den Rest des Lebens mit Nasallauten kämpfen will!“, sagt Clara Loft über extravagante Vornamen. Sie ärgert sich über den Trend, Eltern und Kinder als Konsumenten zu entdecken und sie gleichzeitig im Alltag nur noch als Störfaktoren wahrzunehmen. Margot Werners „So ein Mann“ wird dabei zum Kampflied über „Plastikkram“.
Ball & Jabaras Show „Menschenskinder“ ist gelungen, auch wenn nur die negativen Aspekte des Mutterseins behandelt werden. Die von Betroffenen üblicherweise geschilderte Liebe für und Freude am Kind tritt völlig in den Hintergrund. Doch das hinderte in Sankt Ingbert das Publikum nicht, Ball & Jabara rhythmisch-klatschend zu feiern.
Gilles Chevalier © 2012 BonMot-Berlin Ltd.
Mia Pittroff – www.tillreiners.de – www.balljabara.de
www.st-ingbert.de
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