Geballte Chanson-Frauenpower auf der Bühne in Alt-Treptow – Kritik

Tanja Ries_Chansonfest Berlin l Foto © Anna Schwarz17. Chansonfest Berlin – 1. Abend

BERLIN (bm) – Zum zweiten Mal findet das Berliner Chansonfest im Kleinkunst-Theater corbo statt, einer der jüngsten Bühnen dieser großartigen Stadt. Der Name Corbo ist eine Verballhornung des französischen Worts für Rabe: corbeau. Vielleicht auch, damit die Deutschen das richtig aussprechen.

Zum ersten Mal haben in diesem Jahr die Betreiberinnen dieses frankophilen Theaters das Festival auch organisiert: Yvonne Fendel und Lisa Zenner. Und um einen Teil der Bilanz gleich vorwegzunehmen: Mit ihrer Auswahl der Künstler ist es den Corbetten gelungen, ein vielfarbiges Spektrum dessen zu zeigen, was unter der breiten Überschrift Chanson vorstellbar ist.
Geblieben ist die Moderatorin Tanja Ries, die bis zum vergangenen Jahr noch das Chansonfest gleichzeitig auch organisiert hat.

Vanessa Maurischat_Chansonfest Berlin l Foto © Anna SchwarzVanessa Maurischat greift beherzt in die Tasten und lächelt dabei verschmitzt. 2002, vor zehn Jahren also, ist sie schon einmal beim Chansonfest Berlin aufgetreten. Inzwischen ist sie sicher geworden in ihrem Stil. Begrüßt uns keck mit dem abturnenden „Silvesterburner für Singles“.

Feiner Spott schwingt immer mit – egal ob sie mit ihrer warmen Reibeisenstimme von der Einsamkeit oder vom Verliebtsein singt. Da wird schon mal ein viel zu stilles Telefon auf seine Funktionstüchtigkeit hin überprüft.

Denn „da ist noch Platz in meiner Welt aus Asphalt, Staub und Papier“, womit sie, die aus Braunschweig stammt, eine treffende Metapher für das Leben in Berlin gefunden hat. Im Jahr 2038 wird sie übrigens den Preis für ihr Lebenswerk erhalten. Das verkündet sie jetzt schon. Und nachdem Jörg Pilawa ihr die Trophäe überreicht haben werden wird, wird sie noch einmal anstimmen „Alles, was ich hab‘, sind meine Lieder!“ Mit diesem selbstironischen Volltreffer mit Hit-Potential hat Vanessa Maurischat das Chansonfest auf den ersten Höhepunkt gebracht.

Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren gibt es keinen Wettbewerb um den Nachwuchspreis mehr. An jedem der drei Veranstaltungstage erhält nun jeweils ein Nachwuchskünstler die Chance, sich und seine Lieder zu präsentieren.

Meike Schrader_Chansonfest Berlin l Foto © Anna SchwarzBeim Frauenabend war das Meike Schrader, auch eine Sängerin, die sich selbst am Flügel begleitet. Den Dingen und vor allem den Leben auf den Grund gehen möchte sie. Selbstbewusst und unerschrocken baut sie sperrige Texte aus Vokabeln, die in der Lyrik nichts verloren haben. Da werden Substantive wie „Achtsamkeit“ gesungen oder so wenig poetische Formulierungen wie „seine Sicherheiten soll man sich erhalten“ und „das Ertragen scheinbarer Sinnlosigkeit“.
Auch so artige Erkenntnisse wie „Ich lern Tag für Tag, besser mit mir umzugehen“ imponieren weder philosophisch noch sprachlich. Das hört sich eher nach vertonter Frauenzeitschrift oder Ratgeberliteratur an als nach Chanson.

dieFENDEL_Chansonfest Berlin l Foto © Anna SchwarzUnd dann kommt dieFENDEL. Eine Wucht. Mit Schnaps und Bier und Zigaretten bewaffnet bekämpft sie das Leben. „Wollen Sie mich mal anfassen?“ Nein, das will niemand. Vor dieser monströsen Erscheinung haben alle – irgendwie Angst. Bei ihrem herben Sprechgesang unterstützt sie feinfühlig und punktgenau die Pianistin Hada Benedito.

Wer über so viel abgehalfterte Lebens-erfahrung verfügt wie sie, der kann es sich erlauben „Er war gerade 18 Jahr …“ mal so anzudeuten und sofort gedanklich abzuschweifen. Es gibt ja doch noch einiges zu erzählen …
Mit dem gewagten Auftritt verstört und begeistert sie das Publikum gleichermaßen, aber nichts anderes beabsichtigt Yvonne Fendel mit ihrer provokanten Figur dieFENDEL. Warum sie in diesem Jahr erneut beim Chansonfest aufgetreten ist, obwohl sie doch erst im vergangenen Jahr dabei war, ist schwer verständlich. Oder liegt das daran, dass sie selbst jetzt das Programm zusammenstellen durfte? Und sich einfach mal gegen sich selbst durchgesetzt hat?

impro Trio_Boris Steinberg dieFENDEL & Tanja Ries_Chansonfest Berlin l Foto © Anna SchwarzIn ihrer unverschämten Rolle erklimmt dieFENDEL den Gipfel – aber so jemand wie sie darf das – als sie Tanja Ries und Boris Steinberg, die beiden Chansonfest-Exen, für ein Lied auf die Bühne zwingt. Der Chansonnier Boris Steinberg hatte 1996 das Chansonfest Berlin ins Leben gerufen, die Chansonniere Tanja Ries hatte 2005 als Organisatorin und Moderatorin übernommen. Zusammen stimmen sie nun also ungeprobt „In dieser Stadt“ von Hildegard Knef an. Ist aber gut gegangen.

Danach bekommt jeder noch einen Raben: Tanja Ries und Boris Steinberg als Urgesteine einen goldenen, einen gelben haben Vanessa Maurischat und dieFENDEL als Teilnehmerinnen erhalten und einen grünen Nachwuchsraben hat Meike Schrader bekommen.

Beate Moeller © 2012 BonMoT-Berlin
alle Fotos von Anna Schwarz

Raben, alle Künstler des 1. Abends_Chansonfest Berlin l Foto © Anna Schwarz

www.chansonfest-berlin.dewww.corbo-berlin.de

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