Helge Schneider im WDR-Fernsehen mit „Helge hat Zeit“
TV (hs) – Der WDR kreißte und gebar … eine Talkshow! „Um Himmels willen, nicht noch eine!“ dachte da der Zuschauer. Eine neue Tiersendung, diesmal vielleicht mit Kaker-laken, Nilpferden und Co.? Ja, wenn’s denn sein muss. Oder eine neue Rankingshow: Die zehn mediengeilsten Regierungs-präsidenten der Nordrheinwestfalen.
Könnte ganz unterhaltsam werden. Wenn’s gar nicht anders geht, auch eine neue Koch-Show: Allwetterkoch Björn Freitag verkocht abgelaufene Lebensmittel zu Kohlebriketts. Aber eine neue Talkshow? Noch eine? Und dann auch noch mit Helge Schneider? Kann der das überhaupt?
Um es gleich vorwegzunehmen: Nein, er kann es nicht. Die Trailer-Redaktion des WDR-Fernsehens muss hier auch schon über Insider-Informationen verfügt haben, ließ sie die Sprecherin doch sagen: „Können Sie sich vorstellen, dass Helge Schneider eine eigene Talkshow bekommt? Nein? Wir auch nicht. Wir riskieren’s aber trotzdem.“
Im WDR war man ja eigentlich schon immer sehr risikofreudig, was experimentelle Formate betrifft: „Klimbim“, „Plattenküche“, „Schmidteinander“ – oder auch mutige Kabarettsendungen: „Mitternachtsspitzen“, „Nightwash“, „Hart aber Fair“. Man musste ja schliesslich (noch) nicht auf die Quote schauen und konnte sich daher austoben. Kreativität braucht nun mal Raum, um sich entfalten zu können. Quotendruck führt hier nur zur endlosen Reproduktion ehemals erfolgreicher Ideen, was sich ja auch im WDR-Fernsehen sehr schön beobachten lässt.
Die Verantwortung für Helges neue Talkshow lag nun interessanterweise nicht bei der früher so erfolgreichen Unterhaltungsabteilung, sondern beim Programmbereich Kultur und Wissenschaft. Der sonst so verbreiteten Gefallsucht ist man hier noch nicht ganz verfallen. Hier ist man eher daran gewöhnt, dass die Preziosen öffentlich-rechtlicher Kernkompetenz unter Ausschluss der Öffentlichkeit versendet werden.
So was macht Redaktionen mutig. Wenn sowieso niemand zuguckt, kann man ja machen was man will, oder? Leider sind diese Zeiten inzwischen auch längst Vergangenheit. Da ist schon Verena Kuhlenkampff vor, die Fernsehdirektorin des WDR, die sich in den fünf Jahren ihrer bisherigen Regentschaft den Ruf erarbeitet hat, an Reichweiten – sprich Quoten – nicht ganz uninteressiert zu sein.
Mutig war es also durchaus, ausgerechnet Fernsehmuffel Helge Schneider eine eigene Talkshow im WDR-Fernsehen zu verpassen. Rein prophylaktisch freute sich der zuständige Programmbereichsleiter Matthias Kremin schon im September darüber, dass Helge in Sachen Kultur niemand ein E für ein U vormachen könne. Oder umgekehrt. Herr Kremin kennt sich aus, WDR-5-Hörern ist er noch aus der Kultursendung „Scala“ bekannt.
Und die Redaktion blödelte im Voraus: „Ein Ruck wird durch Mozart und Peter Frankenfeld gehen!“ Ruckartige Rotationsbewegungen am heutigen Aufenthaltsort der beiden Angesprochenen sind womöglich tatsächlich nicht ganz auszuschließen.
Was aber in Dreiteufelsnamen war das denn nun jetzt, was Helge da neulich im Kölner Stadtgarten fabrizierte? War es wirklich eine Talkshow mit „Menschen, Quatsch und Philosophen“, wie das WDR-Fernsehen orakelte? Vielleicht war es auch eine Art erweiterter Jam Session mit lieben Freunden? Oder war es am Ende doch einfach nur Geblödel mit Musik?
Die Antwort lautet: Ja. All das und nichts davon. Jedenfalls nicht richtig. Die Schriftstellerin und gelernte Puppenspielerin Sibylle Berg entlockte Helge Bekenntnisse zu seiner rothaarigen Kindheit. Mit der mehrfachen Schauspielerin des Jahres Sandra Hüller produzierte er wiederholt ellenlange Gedankenstriche, auch über Ossis im Westfernsehen. Kurt Krömer riss die Gesprächsleitung bisweilen komplett an sich und überraschte mit erstaunlichen Einblicken in Beinkleid und Gemütsverfassung.
Wer also einen Talkmaster erwartete, wurde enttäuscht, weil Helge alles falsch machte, was man nur falsch machen kann. Wer eine Musiksendung erwartete, wurde enttäuscht, weil zu viel geredet wurde. Gerne hätte man mehr von ihm und seiner phantastischen Combo (Willy Ketzer am Schlagzeug, Rudi Olbrich am Bass) gehört. Und wer auf Geblödel aus war, wurde ebenfalls enttäuscht, weil in den Gesprächen mit den Gästen doch immer wieder Ernsthaftes dazwischen störte.
Folgerichtig muss das Urteil über „Helge hat Zeit“ also lauten: Enttäuschend.
Jedenfalls müsste es das, ginge man mit den üblichen Fern-Sehgewohnheiten an die Sache ran, an denen das Fernsehen selbst ja nicht ganz unschuldig ist. Ein Talk Master hat gefälligst informiert, eloquent, investigativ aber dennoch adrett und stets souverän zu sein.
Helge Schneider zeigte keine dieser Eigenschaften. Aber er hatte Zeit. 74 goldene Minuten Sendezeit. Sendezeit ist noch viel wertvoller als richtige Zeit. Umgerechnet sind diese 74 Minuten Sendezeit tatsächlich 16 Millionen 280 Minuten oder circa 40 Jahre Lebenszeit der Zuschauer. Wer es gern nachrechnen möchte: Helge hatte am Samstag 4,8% Einschaltquote und 220.000 Zuschauer. Jede Sekunde Nachdenklichkeit von Helge kostete seine Zuschauer knapp 153 Tage Lebenszeit. Es ist also nicht ganz unberechtigt, sich zu fragen, was die Zuschauer dafür bekommen, wenn sie so viel Lebenszeit investieren.
Für den ungeübten Zuschauer wirkte das alles wie ein einziger Kramladen. Und überhaupt: Wer interviewt da eigentlich wen? Warum denkt Helge so lange nach, um auf eine Bemerkung von Sibylle Berg zu antworten? Wann ist eigentlich ein Talkmaster das letzte Mal so lange beim Nachdenken im Fernsehen gezeigt worden? Falls er das überhaupt tut, nachdenken. Und was macht eigentlich dieser livrierte Teekellner da?
Ein (richtiger) Talkmaster hätte das Beatbox-Mädchen zum Beispiel gefragt: „Sagen Sie mal, Fräulein Butterscotch, wie machen Sie das eigentlich, nur mit dem Mund eine ganze Band zu imitieren?“. Die Puppenspielerin Suse Wächter hätte er vielleicht gefragt, ob sie mit ihrer gottähnlichen Drafi-Deutscher-Puppe die gläubigen Christen beleidigen wolle, und den Klangforscher und Experimentalorgelbauer Simon Rummel hätte er (der richtige Talkmaster) gefragt, wann denn seine nächste CD herauskäme. Ja, Sie lachen, aber Talkshows sind ja voll von dummen Fragen dieser Art.
Das Fernsehen muss ja immer alles erklären. Der Zuschauer kann es doch sonst nicht wissen. Helge erklärt gar nichts. Und wenn doch, ist es Blödsinn. Aber es ist erkennbarer Blödsinn. Wenn ein richtiger Talkmaster mal wieder was erklärt, ist es auch Blödsinn, nur merkt man das meist nicht, weil er so tut, als wüsste er, wovon er spricht. Helge Schneider tut nicht, er ist. Ach, wäre es doch diese Form von Authentizität von denen in Redaktionskonferenzen immer die Rede ist.
Herr Schneider hat sich immer schon den üblichen Erwartungen widersetzt. Es dauerte Jahrzehnte, bis das klassische Feuilleton bereit war, auch nur seine Existenz zur Kenntnis zu nehmen. Nicht anders in Hörfunk und Fernsehen: Seine „Hörspiele“ aus den frühen Achtzigern hatten nicht die geringste Chance, im Radio gesendet zu werden.
Auf geheimnisvolle Weise gelangte Helge Schneider über die Jahre zu dem, was Marketingleute eine „Marke“ nennen. Er hat es heute eigentlich gar nicht nötig, den Talkmaster zu geben. Er ist schließlich Helge Schneider. Verwechslung ausgeschlossen. So kann er es sich herausnehmen, sowohl seinen alten Freund Alexander Kluge auf die Schippe zu nehmen, mit dem er viele Interviewszenen für den Zwangskulturblock des Privatfernsehens gestaltete, als auch Günter Grass, bei dessen Geburtstagsfeier zum 85sten er mit seiner Combo aufspielte.
Dr. Vasco Boenisch übrigens, der für „Helge hat Zeit“ verantwortliche Redakteur des WDR-Fernsehens, führte noch Anfang Oktober ein Interview mit dem Grass-Biografen Volker Neuhaus für das Kulturmagazin WestArt.
Viel mehr noch als ein genialer Jazzpianist ist Helge Schneider vor allem ein Karikaturist. Und zwar in jeder Hinsicht. Er karikiert die Vorstellung von einem Talkmaster, er karikiert sich selbst, und er karikiert sogar eine Karikatur von Günter Grass.
In erster Instanz ist das alles nur Geblödel, und das mag man dann – oder eben nicht. Lässt man sich aber drauf ein, ist er plötzlich da, der Gewinn für den Zuschauer. Helge Schneider gewährt intime Einblicke in den Maschinenraum des Fernsehens. Wer schaufelt die Kohle, wer gibt den Takt vor, wer herrscht über das Personal? Helge wirkt wie ein Vergrößerungsglas für den Fernsehameisenbetrieb.
„Helge hat Zeit“ ist auch ein bisschen wie Medizin. Richtig dosiert fördert es die Gesundung des Zuschauers, aber eigentlich schmeckt es nicht besonders gut, und man mag es auch nicht ständig einnehmen müssen.
Eine wöchentliche Talkshow mit Helge Schneider zur besten Sendezeit ist gottlob sehr unwahrscheinlich. Anfangs hieß es seitens der Pressestelle des WDR-Fernsehens auch, dass es sich um eine einmalige Veranstaltung handele, inzwischen spricht man von Sendeterminen „in lockerer Folge“.
Fernsehmachern sei diese Medizin dringend empfohlen, mindestens drei Mal täglich und auf nüchternen Magen …
Horst Schmitz © 2012 BonMoT-Berlin
Ein Gedanke zu “Auch ein bisschen wie Medizin … – Fernsehkritik”