Voll proll mit alles – Kritik Idil Baydar
Idil Baydar: „Jilet of Germany“
von Gilles Chevalier
BERLIN – Noch zweimal in diesem Jahr lädt sich die Comedienne Idil Baydar Gäste ein. An diesem Montag hat sie in der Berliner Bar jeder Vernunft Den Tod, Vivian Kanner und Florian Fries, Manne und Günther sowie YeoMen begrüßt.
Das Haus war ausverkauft. Ein recht junges Publikum hat da gesessen. Einige hatten sichtbare Bezüge zu türkischer Kultur und türkischer Sprache. Und diese Gruppe hat öfter gelacht! Jilet Ayşe, eine der beiden Figuren Idil Baydars, streut nämlich ab und an einen türkischen Begriff oder eine türkische Redewendung ein. Das verstanden dann nur die Sprachkundigen ganz genau.
Die Anderen kamen aber auch mit. Denn Jilet Ayşe ist eine sehr plastische Figur. Körperlich Cindy aus Marzahn nicht unähnlich, trägt sie eine geschmacklich grenzwertige Kombination von Sportkleidung: Die Hose von Nike, das Oberteil von Adidas. Und wenn sie ihre Stimme erhebt, lässt sie alle hierzulande grassierenden Vorurteile türkischen Menschen gegenüber zu selbstverständlichen Wahrheiten werden.
In einem Deutsch, das man von jugendlichen Gruppen bisweilen auf der Straße hört, erklärt sie, was es mit der Gewalt auf sich hat: Wenn ihr Freund sie schlägt, tut er das nur aus Liebe! „Türkische Liebe tut weh“, sagt sie entschuldigend. Und Gewalt gegen andere findet nur aus einem ganz bestimmten Grund statt: „Das Leben provoziert uns, was sollen wir machen?“ Denn alles in allem „wollen wir doch nur Frieden“.
Jilet Ayşe berichtet von ihrem letzten Besuch beim Job-Center, wo sie einem Prominenten begegnete: „Diese Jackie Chan von dieser Partei, was ist abgestiegen“. Kein Zweifel, die Figur Jilet Ayşe, was man mit „Rasierklingen-Ayşe“ übersetzen kann, nimmt kein Blatt vor den Mund und mag die Klischees bedienen.
Ein Kopftuch trägt Jilet Ayşe übrigens nicht, das hat die andere Figur an: Gerda Grischke. Ein deutsches Gegenstück, das selbstverständlich nichts gegen Ausländer hat – im Ausland! Und ausgerechnet deren Sohn hat sich jetzt in eine Türkin verliebt! Auch Gerda Grischke ist grenzüberschreitend. Dem Mann aus Afrika, der in der zweiten Reihe sitzt, ruft sie zu: „Du bist ja so dunkel. Hast Du keine Angst vor Dir selber?“ Ein eingeschränkter Horizont hat also nichts mit der Herkunft zu tun.
Idil Baydars Gäste haben den Abend abgerundet: Der Tod, der auf unnachahmliche Art seine langen Finger gegeneinander drückt und eine Mischung aus Blockflöte, Stimmung und Radieschen bietet. Manne und Günther, zwei Berliner Atzen, die sich bei Michael Jacksons „Beat It“ bedienen, um ein Loblied auf das türkische Pide zu singen. Wunderbar! Und natürlich YeoMen. Diese fünf Männer sind mehr Band als A-Capella-Gruppe. Sie zeigen, wie man Rock und Techno auch ohne Instrumente auf die Bühne bringt. Das Spiegelzelt tobte!
Ein wenig unter gingen die Sängerin Vivian Kanner und der Pianist Florian Fries, weil Jilet Ayşe im Hintergrund ungelenke Tanzversuche darbot. Vivian Kanner sang zwei jiddische Lieder und ein Werk, dass das Publikum gehörig aufs Glatteis führte. Darf man in der Bar jeder Vernunft ein Lied mit dem Refrain „An allem sind die Juden schuld“ singen? Die Unsicherheit war mit den Händen zu greifen! Zu wenige kannten diesen Klassiker von Friedrich Hollaender aus dem Jahr 1931. Als in den folgenden Refrains dann „die Türken“ und „die Schwulen“ an allem schuld gewesen sein sollten, war der satirische Ansatz wieder klar erkennbar.
„Nächstes Mal“, beschließt Jilet Ayşe den Abend, „erzähl ich euch mehr. Ich schwör, ihr werdet alle Türken werden wollen!“ Na dann, bis zum 25. November!
Gilles Chevalier © 2013 BonMot-Berlin
Fotos: Melanie Marten
nächste Termine:
Montag, 25. November 2013: Berlin, Bar jeder Vernunft, Kartentelefon: 030.883 15 82
Dienstag, 24. Dezember 2013: Berlin, Bar jeder Vernunft, Kartentelefon: 030.883 15 82
Homepage Idil Baydar – Homepage Bar jeder Vernunft
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„Jilet of Germany“
hahaha, genial.
Die ist niedlich