Schnellkurs Depression – Kritik Nico Semsrott

Nico SemsrottNico Semsrott: „Freude ist nur ein Mangel an Information“

von Gilles Chevalier

BERLIN – Ganz nach oben, in die fünfte Etage muss man stiefeln, um in die Berliner Kabarett Anstalt, das BKA, zu gelangen. Von dort geht es dann ganz schnell hinab in die Tiefen der Unzufriedenheit und des Unglücks – jedenfalls, wenn Nico Semsrott sein Programm „Freude ist nur ein Mangel an Information“ spielt. Handelt es sich dabei doch um „Kabarett und Stand up-Tragedy“.

Die Kapuze seines Pullis hat er die ganze Zeit hochgezogen. Sie scheint diesem erfolglosen Menschen und schüchternen Künstler etwas Schutz vor seinem Publikum zu bieten. Denn Nico Semsrott gibt den Depressiven. Mehr noch: Depressivsein ist für ihn eine Lebenseinstellung, von der er noch mehr Menschen überzeugen möchte.

Mit tonloser Stimme gestaltet er einen sehr ruhigen Vortrag. Ein Klemmbrett mit seinem Text hält er in der einen, eine Fernsteuerung für seine Powerpoint-Präsentationen in der anderen Hand. Schwung erzeugt er mit der Projektion bunter Grafiken, prägnanter Schlagwörter und immer wieder mit dem Foto eines niedlichen jungen Angorakaninchens.

Alles geht in Semsrotts Leben schief, das Einzige, was er gebacken bekommt, sind seine Unglückskekse. Motto: Beginn den Tag mit einem Lächeln, dann hast Du es hinter Dir. Über Depressionen redet er, „weil man sich so gut daran aufhängen kann“. Es ist immer wieder überraschend, wie konsequent negativ Semsrott die Welt betrachtet. Jede Hochzeit ist für ihn eine Scheidung von Milliarden anderer Partner, denn vor der Hochzeit steht die Entscheidung.

Und dabei kann man viel falsch machen. Ach wie gut hatten es Semsrotts Meinung nach Sklaven und Leibeigene, denn denen stand keine Entscheidung zu. Es ist ein geschlossenes Weltbild da auf der Bühne, aus dem es aus eigener Kraft kein Entkommen gibt. Wie mag es wohl an Depression erkrankten Menschen gehen? Allein aus der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit lässt sich ein veritables Problem basteln. Semsrott projiziert dafür ein Foto von sich selbst neben ein Foto des jungen Arnold Schwarzenegger mit freiem Oberkörper.

Semsrott entwickelt seine Depression aber nicht nur aus der eigenen Lebensgeschichte, sondern auch aus den gesellschaftlichen Zuständen. Da ist das „Profit-Maximierungs-Weltbild“, in dem es nicht nur eine klare Grenze zwischen oben und unten gibt, sondern auch noch viele Grabenkämpfe im unteren Bereich. Die untere Schicht will sich nämlich von den Hartz-IV-Empfängern abgrenzen, denen es noch schlechter geht. Hauptsache, die eigentliche Konfliktlinie wird nicht angetastet!

Spannend auch die Rubrik „Zehn Sätze ohne Witz“. Da finden sich knallharte Standpunkte zum deutschen Afghanistan-Einsatz oder zur Verantwortung des Konsumenten für die Produktionsbedingungen seiner Waren. Gerne mehr davon! Wegen der Kürze und wegen der Abwesenheit der Pointe.

Auch die traurigen Kurzgeschichten im zweiten Teil sind hörenswert, lehren sie doch, wie selbst Grundschulkinder eine Depression verstärken können oder ein ganzer Fernsehtag mit Zoogeschichten verbracht werden kann. Interessanter könnte nur noch eine Untersuchung sein, in der nach einem mehrtägigen Gastspiel Semsrotts nach einer signifikanten Erhöhung der Zahl der Selbstmorde geforscht wird. Nein, es war ein furchtbarer Abend – ganz im Sinne des Künstlers.

Gilles Chevalier © 2013 BonMot-Berlin
Foto: Fabian Stürtz

verwandter Artikel:
Freiburger Leitern für Nico Semsrott und die medlz – 26.1.2012

Homepage Nico Semsrott – Homepage BKA

2 Gedanken zu “Schnellkurs Depression – Kritik Nico Semsrott

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