Die Frage wird ja immer lauter, ob wirklich immer mehr Menschen krank sind. Oder ob da nicht Symptome einer Gesellschaft falsch gedeutet werden, die unter Berufung auf Phantasien der Pharmaindustrie sozusagen mit dem Schinken nach der Wurst wirft, wie man sagte, als tobende Kinder noch nicht Lärmschutzexperten und Apotheker auf den Plan riefen. Mal abgesehen davon, dass man heutzutage besser mit dem Sojawürstchen nach der Magerspeckseite wirft, um niemanden auszuschließen.
Charakter heißt jetzt Störung, und echte Störungen kommen als Anpassungsfähigkeit gut an. Depression und Burn-out sind Sammelbegriffe für Zustände, aus denen einst Welt-, nicht Ratgeberliteratur entstand. Würde Tschechow heute eine Selbsthilfegruppe gründen? Statt unterm Kirschbaum ein rauschendes Fest zu feiern mit Wodka, Tränen, und gut zu essen gäbe es natürlich auch…
Ernährung ist schwierig geworden. Wer ohne Diätrezept und Zusatzstofftabelle aus dem Haus geht, darf sich nicht wundern, wenn er behandlungsbedürftig zurückkehrt. Und vor allem braucht er Hilfe. So wie die von der „Binge-Eating-Störung“ Betroffenen. Der Name ist das Wichtigste bei einer modernen Krankheit. In diesem Fall wird das „Gelage“ aufgegriffen, das in der Kunst reichlich dokumentierte Arbeitsessen unserer Vorfahren. Auch beim „Binge-Eating“ essen Betroffene sehr viel mehr, als zum Sattwerden nötig wäre.
Dass Manfred Fichter von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde gerade jetzt rät, sich Hilfe zu holen, ist kein Zufall, sondern Timing. Es steht unmittelbar bevor: das saisonal bedingte große Fressen. Doch noch gilt Weihnachten nicht als Krankheit.