Die deutsche Antwort auf Alice im Wunderland wird 60 – Interview mit Erwin Grosche

Erwin Grosche - Der Eisgenu§verstŠrker„Ich bin ein wenig falsch hier.“

Von Hans-Jürgen Lenhart

Für Erwin Grosche, einen der Großmeister der Kleinkunst, heißt es am 25. November 2015 „Willkommen im Club!“ und zwar der 60jährigen. Wenn man Kleinkunst als Sammelbegriff für alle „Acts“ versteht, die von Waschsalons bis Fußballstadien auftreten, von Dada bis Gaga reichen und die schimpfen oder slammen, dann ist 60 Jahre für einen Kleinkünstler heute doch so langsam über dem dort verbreiteten Altersdurchschnitt. Zum Glück gibt es aber keine „Sit Down Comedians“ und es wäre für Erwin Grosche auch völlig unangemessen.

Der umtriebige Kabarettist macht einfach weiter, hält Abstand zu solchen Altersfragen, indem er schon wieder ein neues Programm hat, das eben „Der Abstandhalter“ heißt. Erwin Grosche - Abstandhalter2 3x3 - Foto © Harald Morsch Und in gewisser Weise wird ein Großteil seines Publikums vom Altersabstand her sogar immer jünger, denn Grosche ist als Autor für Kinder schon lange mindestens genauso erfolgreich wie als Kleinkünstler. Grund genug, zu seinem Sechzigsten ihn nicht nur als Kleinkünstler, sondern vielmehr als Gesamtkünstler zu würdigen, als Schriftsteller, Theatermensch, Schauspieler, Filmemacher, Liedermacher, Internetkolumnist, Moderator und vor allem Paderborner, der das Ostwestfälische als einen liebevollen Kosmos vermittelt, über den man auch gerne mal frotzeln kann.

Erwin Grosche SchreibtischVor allem aber ist Erwin Grosche einer jener glücklichen Sonderfälle, von denen es im Kabarett immer weniger gibt. Er philosophiert gerne über die kleinen Dinge des Alltags, die dadurch eine unerwartete Aura bekommen. Er fordert auf, die Welt mit Kinderaugen zu betrachten, scheinbar bedeutungslosen Dingen wie Spülschwämmen etwas Faszinierendes abzugewinnen, also wieder richtig zu staunen, anstatt nur noch immer geilere Auto-Crashs im Kino zu bewundern. Insofern ist es gar nicht zu unterscheiden, ob manche seiner Texte für Kinder oder Erwachsene geschrieben wurden. Erwin Grosche - Wenn mein Dackel Flügel hätte 3x3 - Foto © Harald MorschMag man sein Konzept nun poetisches, literarisches oder philosophisches Kabarett nennen, auf jeden Fall ist es zeitloses Kabarett. Grosche zeigt, Schenkelklopferlacher sind nicht alles und querdenkerische Komik hat eine viel größere Nachwirkzeit. Und dazu kommt noch sein Jonglieren mit Worten und Geräuschen, skurrilen Gegenständen und der Einsatz teils ungewöhnlicher Klangerzeuger. Auch sein neues Buch zeigt schon im Titel Querdenkerei. Bei Vögeln geht’s eben nicht immer nur ums Fliegen, denn: „Kurze Strecken gehen Vögel auch zu Fuß“.

Man nannte Sie mal „Die deutsche Antwort auf Alice im Wunderland“. Wie stehen Sie zu so einer Bezeichnung?

Es stimmt. Ich bin ein wenig falsch hier. Meine Anstrengungen so zu erscheinen wie man sollte, sind gescheitert. Auch meine Mutter vertraute mir mal an, dass ich von „woanders“ komme, aber ließ mich über den genauen Ursprungsort im Unklaren. Selbst der genaue Termin meiner Geburt ist ein Geheimnis. Während meine Mutter behauptete, dass ich am 24. November geboren wurde, gab mein Vater der Passbehörde den 25. November als den Tag meiner Ankunft an. So feiere ich an zwei Tagen. Mein Fremdsein macht mir den Umgang mit dieser Welt nicht einfacher. Da ich selbst an die Existenz von Außerirdischen nicht glaube, vermute ich manchmal, dass ich einfach ein wenig zurückgeblieben bin. Ich war trotzdem immer sehr glücklich und habe manche Pflichten übernommen, deren Sinn mir bis heute nicht einleuchtet. Warum hängt man in Sektflaschen Löffel und hofft dadurch, dass er noch immer perlt, selbst wenn die Party längst vorüber ist? Ich habe manchen Trost darin gefunden, die Dinge zu beschreiben, die mir rätselhaft vorgekommen sind. Vielleicht falle ich damit in Paderborn auch weniger auf, weil hier viele mit dem Alltag sehr salopp umgehen.
Erwin Grosche - Warmduscherreport 3x3 - Foto © Harald MorschWas viele immer an Alice im Wunderland verkennen ist doch, dass sie die einzig Normale in der ganzen Traumgeschichte ist. Eigentlich mache ich auch alles so, wie ich es von anderen kenne. Ich wache morgens auf und schaue mich um. Ehe ich mich versehe, drängen sich Geschichten auf und ich stecke in aberwitzigen Zumutungen und werde Zeuge außergewöhnlicher Geschehnisse. Es ist dann mein innerer Dämon, der mich erpresst, dies alles aufzuschreiben. Ich mache das nicht freiwillig. Natürlich wäre ich manchmal lieber Peter Handke oder Wim Wenders, aber die große Kunst und die alles verändernden Weltereignisse lassen mich kalt. Es sind diese sonderbaren Geschichten, die mich auf den Kopf stellen und die dann aus mir purzeln wie Münzgeld. Ähnlich wie Alice im Wunderland trete ich also meine Reisen an und weiß nicht, wo ich landen werde. So bin ich oft in Gedanken und stehe da wie ein Erdmännchen und fühle mich bedroht von Ordnung und Selbstsicherheit.

Ihr Vers „Die Wirklichkeit, die Wirklichkeit, macht sich in meinem Kopfe breit. Verdrängt den Traum, verdrängt den Schlaf, ich werde brav, brav, brav, brav, brav“ wirkt wie ein Credo fürs Träumen bzw. Aussagen wie „Nur wer einen Traum hat, kann die Welt verändern.“ Sehen Sie Ihre Art des Träumens, der Fantasie als weltverändernd oder gar politisch an?

Es gibt nur das richtige Leben, um zu zeigen, wie man tickt. Der Traum ist keine Fragerunde. Ich möchte zeigen, was ich fühle und wer ich bin. Das geht nur, wenn man die anklopfende Wirklichkeit auf Abstand hält. Ich unterschreibe nichts an der Haustür. Lassen wir doch unsere Lebenswünsche als Ziel zu. Ich akzeptiere meine Wahrnehmung der Welt als Wirklichkeit. Ich weiß nicht, was die anderen geschluckt haben, um so leben zu können, wie es für mich nie in Frage kommen könnte.
Erwin Grosche - Wirklichkeit 3x3 - Foto © Harald MorschIch erzähle auf der Bühne von meinen Lösungen wichtiger Probleme. Wann beginnt z. B. die Rückwegs-Müdigkeit? Gerade wenn man im Kreis geht, kann man doch den Rückweg vermeiden. Viele kaufen schon am Anfang die schweren Sachen und müssen dann die ganze Zeit alles mit sich umhertragen. Da hat man den Sack Kartoffeln in der Hand und begrüßt damit die schöne Frau von Rönne. Wenn der Rückweg Sinn haben soll, dann küsst man sich erst durch die Welt und holt auf dem Rückweg die Kartoffeln ab.
Ich glaube, dass wir zurück müssen zu einer Naivität des Denkens. Das Computerzeitalter blockiert uns mehr, als dass es uns nützt. Das Internet als Wissensquelle lügt, so lange jeder diesen Irrsinn für seine Ziele missbrauchen kann. Ich verstehe gar nicht, warum wir alle so laut sein müssen. Meine Wohnungsklingel ist so laut, als stände Frankenstein vor der Tür und wollte mich zum Scheibenschießen abholen. Ich liege oft mit meinem Hund unterm Bett und lasse alles Unangenehme vorübergehen. Vielleicht reicht es wirklich aus, manchmal nur sinnvoll zu leben, vielleicht kann man nebenbei auch religiös sein und ein guter Mensch ist man dann am Sonntag, wenn der Mensch sich langweilt.
Die Wirklichkeit ist eine Rampensau, die man nicht zu ernst nehmen sollte. Wenn man es sich erlauben kann, sollte man diesen Bereich des Lebens meiden. Es gibt Wichtigeres, als in dieser Wirklichkeit erfolgreich zu sein. Die Oberflächlichkeit ist kein Zustand, den man auf der Bühne unterstützen sollte. Ich bin für die Liebe.

Sie arbeiten viel für Kinder. Wie groß schätzen Sie den Anteil dieser Arbeit gegenüber Ihrem kabarettistischen Werk?

Wenn ich etwas beschreiben will, wird meistens ein Kindertext daraus. Ich muss mir dagegen Mühe geben, grob zu sein. Weicheiertexte liegen mir mehr. Die Welt zu beschreiben vor dem Vertreiben aus dem Paradies, ist ein schöner Ansatz. Das ist höchst interessant. Ich meine, die Schlange war auch im Paradies zu Hause.
Erwachsenentexte unterfordern mich oft durch die Vorhersehbarkeit der Themen. Im Augenblick ist es so, dass ich im Jahr viele Kinderbuch-Angebote bekomme und mich sehr darüber freue, wenn mir davon einige Projekte gelingen. Manchmal habe ich dann für die Erwachsenen gar keine Zeit mehr. Es lockt mich dort auch niemand. Vom BR hörte ich oft, dass sie selbst Fan meiner Kleinkunst sind, aber sie mich nicht ihren Zuschauern zumuten wollen. Ich weiß, dass man einen Zugang zu meiner Kunstform finden muss, die viele überfordert. Ich weiß das doch. Wer will schon stören? Ich spiele Kabarett für Kinder. Ich komme zu ihnen in die Schulen, und spiele zum Abschluss von Lesewochen. So kann ich zeigen, wie die Welt auch aussehen kann, wenn man einen anderen Blick auf sie wirft. Das ist ein großer Spaß. Aber keine Angst, ich werde den Umgang mit Erwachsenen weiter pflegen.
Im Augenblick biete ich in Paderborn eine besondere Stadtführung an, auf der man andere Künstler trifft, die an wunderbaren Plätzen einen Einblick in diese Stadt geben. Da ist plötzlich der Mann in der Pommesbude ein Schauspieler und erzählt von der Entstehung der Currywurst. Im „Raum für Kunst“ sieht man einen kleinen Film über einen ostwestfälischen Helden und in der Bartholomäuskapelle wartet eine Gitarristin und spielt Bach. Wer hätte gedacht, wie unterschiedlich mal die Programme sein werden, die man anzubieten hat. Neben meinen Kinderbüchern bringe ich auch alle drei Jahre einen neuen Spielfilm heraus, den ich mit Paderborner Schauspielern drehe. Der letzte Film „Verzeih“ lief hier im Kino mit großem Erfolg. Gerade bereite ich den nächsten Spielfilm vor, der 2016 gedreht werden soll. Es ist ein schönes Gefühl alles machen zu können, was man sich in seinen Träumen vorgenommen hat. Man hat überhaupt keine Zeit darauf zu warten, dass man damit Erfolg hat. Ich hoffe, dass das Konzept noch lange gut geht. „Welches Konzept?“, fragen alle. „Sich treiben lassen“, sage ich dann.

Kleinigkeiten wie Spülschwämme oder Kaffeeplätzchen bekommen bei Ihnen eine Bühne. Was ist Voraussetzung, dass diese Dinge sozusagen bühnenreif werden?

Viele Gegenstände haben ihren festen Platz in unserer Gesellschaft. (Mit so einem Satz wollte ich schon immer eine Antwort beginnen.) Männer bleiben ihr Leben lang einer Automarke treu und bestellen immer die Pizza Thunfisch in der gleichen Pizzeria. Da spielt die Sehnsucht eine Rolle. Man will sich auf etwas verlassen können, weil man den Kopf für andere Dinge frei haben will. Gewisse Abläufe müssen unangefochten geklärt sein, damit man sich dann dem scheinbar Wesentlichen widmen kann. So versprechen oft Produkte Geborgenheit und Treue. „Ich will so bleiben, wie ich will. – Du darfst.“
Die Kleinigkeiten umgeben uns wie eine Aura und formen uns zu dem, was wir sind. Ich will diese Dinge beschreiben, weil ich so von Tod und Liebe reden kann, ohne den Pathos überzustrapazieren. Ich kann ein Stück über NIVEA schreiben und damit von der Treue und der Liebe sprechen, von der Weichheit und der Pflege. Ich hatte jetzt in Detmold einen Journalisten kennengelernt, der dachte, ich wollte mit der NIVEA-Nummer für Heiterkeit sorgen. Da hat er gar nicht verstanden, dass ich mit der Reihung der Buchstaben N-I-V-E-A eine Geschichte der Sehnsucht erzählen will. Aber egal: „Nur-Indianer-Vermissen-Echte-Anreize“.

Erwin Grosche und "Die Flamingos"
Erwin Grosche und „Die Flamingos“ mit Hund Milik

Mein Leben ist in dieser Hinsicht vorbestimmt, da mein Vater Bäckermeister war und meine Mutter einen Lebensmittelladen hatte. Ich weiß noch, wie wir staunend vor dem ersten Tri-Top standen, wo man aus einer Flasche sechs andere zaubern konnte. Das war die Hochzeit zu Kanaan und die wunderbare Brotvermehrung zusammen. So entstand mein Bühnenstück „Trauerrede für eine Fruchtsaftsorte“. Später gab es dann Tri Top wieder. Ich weiß aber nicht, ob ich mit meiner Verlustmeldung dazu beigetragen habe. In Paderborn rettete ich aber mit einem Gedicht über das Tigerbrötchen genau diese Brötchensorte. Diese Brötchenart fällt dadurch auf, dass die Oberfläche des Brötchens durch eine sehr heiße Backweise aufreißt und Tigerstreifen hinterlässt. So bekam das Brötchen seinen Namen. Welch ein Glück, damit am Frühstückstisch zu spielen. Mein kleines Gedicht zu der Brötchenaufgabe genügte, um das Paderborner Bäckerherz zu rühren. Bäcker Mertens entschied sich daraufhin, wieder das Tigerbrötchen in sein Sortiment zu nehmen. Ich bin sehr stolz auf diese Geschichte, weil es immer noch zeigt, wie Literatur die Welt verändern kann.

Wie stehen Sie zu Paderborn bzw. zum westfälischen Menschenschlag, den Sie ja manchmal als relativ phlegmatisch darstellen? Ist es Hass-Liebe, Antipode bzw. das Normale, aus dem die Fantasie sich gerade erst entwickeln kann?

Was wäre ich ohne Paderborn und die Paderborner? Manchmal stelle ich den ostwestfälischen Menschenschlag so dar, als könnte er kein Wässerchen trüben, aber er ist das Wasser. Er ist klar, ruht in seinem Bett und sprudelt überraschend, wenn man es am wenigsten erwartet. Einer wie ich, der sich überall fremd fühlt, hat hier ein Zuhause gefunden. Da habe ich doch gleich „ja“ gesagt, hier halt ich es aus. Man kann also wirklich nicht von einer Hass-Liebe sprechen. Für mich ist der Paderborner ein Vorbild, so soll der Mensch sein. Freundlich und klug, offen und zurückhaltend, ein wenig unbeholfen und umso mehr bemüht, einfach und vertrauensselig. Dem Paderborner ist nichts gleichgültig, er mischt sich ein, wenn er etwas zu sagen hat. Der Ratschlag eines Paderborners ist Gold wert. Er hat seinen Rat gut abgewogen und fühlt sich dadurch verantwortlich. Wenn es nur Paderborner geben würde, wäre die Welt ein Stück besser. Natürlich geht es mir auch darum in meinem Programm. Alles ist vergänglich und lebenswert. Man muss es nur loslassen können. Man muss ganz natürlich werden, dann ist man der Erleuchtung nahe wie der Paderborner. Der Himmel ist im eigenen Herzen zu finden.

Apropos „Hass-Liebe“: Das ist ja ein Paradoxon, was Sie ja auch gerne benutzen. Wie kommt man auf solche Ideen, wie dass es „kalt im Ofenmuseum“ ist?

mit Erwin Grosche Ich bin gar nicht so der Sprachverdreher. Es ist beim Schreiben dieses Satzes halt kalt im Ofenmuseum gewesen und darin liegt für mich die Berechtigung, dieses Wortspiel zu benutzen, obwohl ich selbst solche originellen Verdrehungen gar nicht mag. Der Witz liegt in der Wahrheit. Es macht Spaß zu überraschen. Da ist die Qualität der Äußerung nicht so wichtig. Mit einer Zote zu unterfordern oder einen sehr poetischen Text durch eine unglückliche Bildersprache zu zerstören, wenn das auch genau das Thema des Textes gewesen war, finde ich so reizvoll, dass ich damit gerne meinen Text den Geiern zum Fraß vorwerfe. Auch dieses unpassende Sprachbild mit den Geiern finde ich angebracht, weil ich bemerke, dass ich anfange, klug daher zu reden und das muss man sofort unterbinden, sonst kriegt man Durchfall.

Sie begannen Ihre Laufbahn 1973 als Liedermacher. Wie unterscheidet sich Ihr künstlerisches Konzept von damals insbesondere inhaltlich zum heutigen?

Die Zeit des Übens ist vorbei. Nun weiß ich, was ich machen soll. Angefangen habe ich tatsächlich mit einer Schrumm-Schrumm-Gitarre. Ich habe richtige Liedermacherlieder gesungen. Regenlieder, Liebeslieder und sogar Lieder, die die Welt verändern sollen. Heute finde ich davon viele der Sachen ein wenig eklig, weil sie so schön waren. Man kann aber an den späteren Liedern erkennen, wohin der Zug mal fahren wird. Auch mein Einstieg als Kinderliedermacher, wo ich schon übers Zähneputzen singen durfte und Lieder über Staubsauger und Föhn gemacht habe, hat mich sehr geprägt.
Ich habe mit dem Gitarristen Toto Blanke arbeiten dürfen, von dem ich auch gelernt habe, dass man seine Kunst behüten muss. Wir haben ja an die 20 CDs gemacht, die alle inzwischen vergriffen sind, aber künstlerisch gesehen, war das sicherlich die schönste Zeit meines Lebens. Wir haben ja nur gearbeitet, geliebt und gefeiert. Wir hatten alle Möglichkeiten und man hat uns zugehört. Heute ist das schon ein wenig traurig, wie unwichtig man geworden ist, aber auch das gehört zu einer künstlerischen Entwicklung. Am Ende steht ja der Abschied, die Einsamkeit und der Tod. Wir werden alle beim Boulevard landen.
Viele wissen gar nicht, wie toll man ist, weil sie nicht mögen, was man macht. Sie denken, dass man ein schlechter Comedian ist. Da könnten sie recht haben, aber sicher ist auch, dass viele Comedians keine guten literarischen Kleinkünstler sind. Ich frage mich manchmal auch: Wie soll man sich identifizieren mit jemanden, der so ist wie ich? Wer will schon so sein wie ich? Selbst ich will oft nicht so sein wie ich bin, aber wenn jeder wie Dieter Nuhr wäre, wäre Dieter Nuhr auch nicht mehr so wundervoll. Andersrum wäre es mir natürlich lieber, aber das kann man von Dieter Nuhr nicht verlangen.
Vor zwei Jahren habe ich beschlossen die großen Städte auszulassen. Die brauchen mich bei Ihrem Überangebot doch gar nicht. Mich reizt auch die Vorstellung, dass es in den Städten, wo es ansonsten alles gibt, dann etwas nicht gibt. Im Augenblick überlege ich sogar Auftritte in Deutschland überhaupt einzuschränken und mehr international zu arbeiten. Die Idee ist gut, aber für jemanden, der nicht gerne reist und starkes Heimweh hat, ist das auch keine gute Idee. Ich brauche eigentlich Künstler als Publikum.

Worüber schreiben Sie in Ihren Internetkolumnen?

Das Internet ist mein Papierkorb und mein Poesiealbum. Es muss nicht alles gut sein, was man macht. Es regt mich an und auf, etwas festzuhalten. Ich sammle aber immer noch meine Sätze und Eindrücke. Es gibt tausende von vollgeschriebenen Blättern und hunderte von Büchern, die ich gar nicht mehr erfassen kann. Viele meiner Ideen gehen so verloren. Manchmal ist es dann beruhigend, dass ich diese Versuche und Anfänge, diese Albernheiten und Eingebungen wenigstens im Internet untergebracht habe. Ich zeige Ihnen mal einige Bespiele von unveröffentlichten „Rhein und Wahr“-Sätzen, die es so doch noch ans Licht der Öffentlichkeit geschafft haben. „Rhein und Wahr“ heißt meine Kolumne, die jeden Samstag in der Wuppertaler Internetkolumne von musenblätter-de erscheinen soll.
„a. Auch die Geräusche brauen eine Umgebung, wo sie hingehören. Stellen Sie sich ihr Lachen in einer Kirche vor? Manchmal hört man fremde Geräusche, die nicht an den Ort passen, wo man gerade ist. Wer will Baulärm im Urlaub haben? Wer will das Schweigen seiner Schwiegermutter in seinem Schlafzimmer entdecken? Es reicht doch, dass ein Handyton ihr Seufzen hat. Die Stille im Freibad ist auch unheimlich, oder haben wir schon wieder Winter? Der Staubsaugersound könnte leise sein, aber wer traut schon einem leisen Staubsauger das Saubermachen zu? Heavy-Metal-Musik wirkt auch eher, wenn die Nachbarn sich darüber beschweren. Manchmal kann das Schweigen wie eine Strafpredigt sein. Wenn jemand mich anspricht, merke ich erst wie wenig wir uns zu sagen haben.
b. Ich habe heute meine sauberen Strümpfe nochmal sauber gewaschen. Ich dachte, wie dumm kann man nur sein…“
Im November erscheint übrigens im NordPark-Verlag Wuppertal ein Buch mit meinen schönsten Bühnensätzen und Internet-Hinterlassenschaften aus vierzig Jahren. Es wird heißen: „Kurze Strecken gehen Vögel auch zu Fuß.“

Wie kamen Sie zum Fernsehen und zum Film?

Lisa und Erwin GroscheIch verdanke meine kurze Fernseh- und Filmkarriere einer Zeit, in der es keine
jungen Schauspieler gab, die poetische Typen waren. Auch Kabarett und Kleinkunst war im Fernsehen selten zu sehen. Ich hatte dann meine Förderer bei Radio und Fernsehen, die sich immer an mich erinnerten, wenn es um solche Filmbesetzungen ging.
Es war tatsächlich so, dass ich nach einem Auftritt bei einem Satire-Festival, der im Fernsehen übertragen wurde, mehrere Filmangebote aus Berlin bekam. Ich hatte dann das Glück, in vielen Filmen mitzuwirken und so zu tun, als würde ich dazu gehören. Ich habe große Rollen gehabt in kleinen Serien und kleine Rollen in großen Kinofilmen. Ich war bei der „Lindenstraße“ und in „GZSZ“ zu sehen. Gerne probierte ich alles aus. Es war immer ein Mysterium in einer eigens für mich geschaffenen Wirklichkeit einzutauchen. Meine größte Freude war aber immer, wenn der Ton die Atmosphäre der Außengeräusche aufnehmen wollte und das gesamte Filmteam für sieben Minuten schweigen musste. Man hörte dann der Stille zu. Auf diesen Augenblick habe ich immer gewartet.

Was hat Sie gereizt, sogar in einem Tatort mitzuspielen?

Ich hörte, dass Maria Furtwängler die Rolle der Kommissarin angetragen worden war. Ich bin ja schon immer ein wenig in sie verliebt gewesen. Dieses Kühle und Unnahbare hat mich immer sehr gereizt. Ich saß ihr dann bei den Dreharbeiten einen Tag gegenüber und konnte erleben, wie warmherzig ihr Blick war, wie anmutig ihr Wesen. Wir sprachen zwar selbst keinen privaten Satz zusammen, aber ich spürte, was diese Frau antrieb.
Ich mache natürlich nur Quatsch. Das stimmt nicht, was ich über Frau Furtwängler schrieb. Ich war mal in Romy Schneider verliebt gewesen, aber das ist schon lange her. Ich hatte in dem Tatort ja nur eine kleine Rolle und drei Drehtage. Wenn mir aber eine Rolle in einem Tatort angeboten wird, sage ich nicht nein, egal, wer die Kommissarin spielt. Ich fand es sinnvoller, in der Weihnachtssendung „Wir warten aufs Christkind“ mit zu spielen. Meine schönste Rolle war an der Seite vom Raben Rudi. Da spielte ich einen Liftboy in Berlin.
Im Tatort trifft man doch inzwischen Katz und Hund. Ich zahlte für meinen Tatorteinsatz auch einen hohen Preis. War ich vorher noch regelmäßiger Tatort-Zuschauer gewesen, konnte ich es danach nicht mehr ertragen, zur Sonntagssendezeit den Fernseher einzuschalten. Wenn ich schon in einem Tatort mitspielen durfte, dann sagt das viel aus über das Niveau deutscher Krimis.

Sehen Sie sich auch als Schauspieler?

Ich bin alles, was ich will. Ich muss es auch sein. So wie ich Filme drehe, muss sich das Drehbuch den Bedingungen anpassen. Da wir ohne Geld drehen, muss meine Geschichte in Paderborn spielen. Keiner braucht ein Hotel, alle haben kurze Wege. Das Thema des Films sollte zu uns passen. Im letzten Film hat unsere Aufnahmeleitung auch die Requisiten gebastelt, die Bäckersfrau gespielt und das Titellied gesungen. Übrigens hat sie das sehr gut gemacht. Hier finde ich auch die Menschen, die einfach an der Geschichte mitwirken, weil sie sie schön finden. Ich muss dann der Regisseur sein und manchmal auch der Hauptdarsteller. Wer soll es sonst machen? Zusammen mit meinem Kameramann, der aus Leidenschaft dabei ist, bin ich auch Cutter und halte manchmal sogar die Mikrofon-Angel. Meine Freunde spielen die Actionstars und den Liebhaber. Ich sorge für die Finanzierung und besorge die Drehgenehmigungen. Haben wir keine Drehgenehmigung, drehen wir auch ohne. Jagd man uns fort, bauen wir das ein in den Film. Und wenn unser Film im Paderborner Kino uraufgeführt wird, dann läuft er im größten Raum des Universums und es kommen 500 Leute. Ich reiße dann die Eintrittskarten ab und verteile das Popcorn. Dieses Selbstgemachte ist unsere Filmästhetik. Wenn ein professioneller Schauspieler bei unserem Film mitmachen will, frage ich immer vorher, ob er auch nicht schauspielern kann. Er muss sich also eine Spielweise bewahrt haben, die nah an seinem unsicheren „Ich“ steht.
Für meine Filme bin ich also schon der richtige Schauspieler, aber nicht für die normale Herangehensweise, wo beim Film versucht wird, das „echte“ Leben nachzuahmen. Das gehört auch nicht zu meinen Plänen.

Lisa & Erwin Grosche - Strumpf ist futsch 4x6 - Foto © Harald Morsch

© 2015 BonMoT-Berlin
Fotos: Harald Morsch

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