von Gilles Chevalier
BERLIN – Hagen Rether ist nicht zufrieden, als er seinen Abend in der ausverkauften Berliner Philharmonie beginnt. Lässig lässt er sich auf einem Bürostuhl vorm Steinway-Flügel nieder. „Ertappen Sie sich auch manchmal dabei, dass Sie froh sind, dass wir die Merkel haben?“, fragt er resigniert. „Weil sie Maria und Josef einen Stall angeboten hat, wird sie jetzt gekreuzigt im christlichen Abendland!“
Schon wird das Schema dieses großartigen Abends sichtbar. Hagen Rether denkt quer zu den allgemeinen Denkmustern. Er hat Spaß daran, eine Sache von links zu betrachten und möglichst auch noch von unten. Warum, so fragt er, werden eigentlich die jährlich eine Million Auswanderer aus Deutschland in der Diskussion nie erwähnt?
Scheinbar feststehende Zusammenhänge hinterfragt er: Was hat Karl Marx mit Stalinismus zu tun? Oder das Kopftuch mit dem Koran oder der Zölibat mit der Bibel? Für Rether ist klar: Beim Brexit hatten die britischen Rentner Angst, dass ihnen die Flüchtlinge die Arbeit wegnehmen.
Angenehm ruhig geht er durch den Text, große Emotionen sind ihm fremd. Der Flügel kommt kaum zum Einsatz, was die musikalische Untermalung angeht. Eine Viertelstunde lang putzt er das Instrument – die beiden musikalischen Einlagen können nicht länger gedauert haben. Immer wieder brandet kurzer Applaus auf, wenn der Künstler seine Gedanken formuliert.
Die Verrohung der Sprache betrachtet er als Wegbereiter des Faschismus: „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen. Das wird man ja wohl noch anzünden dürfen! Das wird man ja wohl noch totschlagen dürfen!!!“ Dieser Weg ist schnell beschritten. Dagegen wehrt sich Rether und konstatiert: „Wir müssen Menschen schützen, nicht Grenzen!“ Heftiger Applaus an dieser Stelle.
Nach Rether werden zu oft die falschen Themen diskutiert: Burkini und VW statt Bienensterben und schwindende Vorräte von Phosphat-Mineralien. Ein Mangel an Obst, weil es zur Bestäubung kaum noch Bienen gibt, dürfte wichtiger sein als ein Wirtschaftsbetrug. Und die Nutzung eines Schwimmanzugs für Frauen dürfte weit weniger essenziell sein, als die fehlende Möglichkeit, Pflanzen zu düngen. Doch die Gesellschaft – zweifelhaft repräsentiert in Talk-Shows – nennt keine Ursachen und keine Verantwortlichen. Stattdessen verschleiert sie und nährt damit Verschwörungstheorien. Wählen gehen könnte helfen. Mehrere Gelegenheiten dazu bietet ja das laufende Jahr.
Stehend applaudieren die 2.000 Besucher der Berliner Philharmonie nach dreieinhalb Stunden. Hagen Rether hat klug und pointiert in diese hektische Zeit ein wenig Ruhe gebracht. Wenigstens einen Abend lang.
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Foto: Klaus Reinelt
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