Kleine Häppchen vom großen Mythos

Die Revue „Berlin Berlin“ versucht sich am verruchten und vibrierenden Entertainment der „Goldenden 20er Jahre“

von Axel Schock

BERLIN – Wer auch immer sich den Begriff der „Goldenen Zwanziger Jahre“ einst ausgedacht hat, er oder sie war ein genialer Marketingstratege. Denn „golden“ war dieses Jahrzehnt lediglich für die Happy Few, die nicht als Arbeitslose oder verarmt ums Überleben kämpften oder menschenunwürdig in Mietskasernen mehr vegetierten, denn lebten. Die lichterglänzenden Etablissements am Tauentzien, am Potsdamer Platz oder am luxuriösen Ende der Friedrichstraße konnten sich die Durchschnittsberliner kaum leisten. Der Glamour dieser Tage aber ist längst zum märchenhaften Mythos geronnen, der nun, ein Jahrhundert später, einmal mehr fasziniert und inspiriert. Volker Kutschers Romanreihe und die Netflix-Verfilmung unter dem Titel „Babylon Berlin“ haben den sich wandelnden Geist und die widersprüchliche Gesellschaft zwischen Rausch und Verderben eindringlich erfasst und damit einen neuerlichen Hype ausgelöst.

Mit einer „Großen Show der goldenen 20er Jahre“ hat der Theaterproduzent Mehr-BB Entertainment nun das passende Live-Event dazu aus der Taufe gehoben, das ab Januar dann auch durch Deutschland touren wird.

Dass der Admiralspalast ohnehin seit geraumer Zeit in der Hand des Düsseldorfer Kulturunternehmens ist, ist für diese Produktion geradezu ein Glücksfall. So konnte Christopher Biermeier, Autor und Regisseur dieser musikalischen Revue, sich unmittelbar auf die bewegte Geschichte des traditionsreichen Hauses berufen. Herman Haller hatte dort von 1923 an mit die spektakulärsten Ausstattungsrevuen der Stadt realisiert und neue Standards für diese Form der Unterhaltungskultur gesetzt. Doch „Berlin Berlin“ zeigt daran leider wenig Interesse. Nicht eine der Kompositionen Walter Kollos, die für diese Haller-Revuen geschrieben und unmittelbar auf Schallplatte gepresst zu Schlagern wurden, findet sich unter den rund 30 Musikstücken, die im Laufe des Abends auf die eine oder andere Weise zur Aufführung gelangen.

Es ist eine wohlgemerkt überraschende Titelliste, wobei damit leider keine Ausgrabungen und Neuentdeckungen aus der musikalisch außerordentlich produktiven Ära gemeint sind. Überraschend ist vielmehr, wie allzu naheliegend und zugleich abwegig die Auswahl der Musiknummern ausgefallen ist.
Der Auftaktsong „Puttin‘ on the Ritz“ aus der Feder von George Gershwin, Cole Porters „Let‘s Misbehave“, Cab Calloways Scat-Classic „Minnie the Moocher“ oder Fats Waller „Ain‘t Misbehavin“ werden von der achtköpfigen Liveband zwar mit Verve über die Rampe gebracht, versetzen aber das Publikum musikalisch doch eher an den Broadway, denn ins Berliner Nachtleben. Wie gut, dass Josephine Baker einst in der Stadt gastierte und auch auf diesem Tourstopp für Furore sorgte. Grund genug also für Dominique Jackson das ikonografische Bananenröckchen überzuwerfen und für eine auch stimmlich beeindruckende Jazznummer zu sorgen.

„Wir erleben das authentische Berlin, die Stars und Sternchen dieser Zeit“ hatte Autor Biermeier in einem Vorabinterview den Zuschauern versprochen, und es auch tatsächlich so gemeint. Der dürre dramaturgische Faden verbindet mehr schlecht als recht Musik und Shownummern entlang einer Handvoll Persönlichkeiten. Die Comedian Harmonists etwa liefern direkt nach der Pause etwas unvermittelt einen Best-of-Block ihrer A-Capella-Schlager, und weil ein paar Straßen weiter 1930 „Das Weiße Rössl am Wolfgangsee“ seinen Siegeszug durch die Welt antrat, werden auch hier die bekanntesten Melodien in ein krachledernes Medley gepackt. Auch die „Dreigroschenoper“ hatte nicht unweit ihre Uraufführung erlebt, und so sehen wir in einer wohl satirisch gemeinten Szene die Herren Brecht und Weill, wie sie am Kneipentisch kurz vor der Premiere noch schnell den „Haifischsong“ aus dem Ärmel schütteln. Oder Marlene Dietrich (Nina Janke), die sich fürs Vorsingen bei Joseph Sternberg vorbereitet, um dann erwartungsgemäß die Hits aus dem „Blauen Engel“ zu präsentieren. Dass sie da schon einen Hosenanzug trägt, den sie in Wahrheit erst in Hollywood zu ihrem modischen Markenzeichen gemacht hat – wen kümmert’s.

Ohnehin nimmt es diese Revue mit biografischen Fakten und der zeitlichen Ausdehnung der 20er Jahre nicht so genau. Ein großer Teil des verwendeten musikalischen Materials stammt aus den 30er Jahren – oder gleich aus dem Musical „Cabaret“ von 1966. Fatalerweise sind gerade diese Nummern sängerisch-musikalisch die eindrucksvollsten der Show. Sophia Euskirchen, lange Zeit die Sally Bowles in der „Cabaret“-Produktion des Berliner Tipi am Kanzleramt, gelingt es, etwa mit dem Song „Mein Herr“ eine tiefergehende Ebene jenseits des reinen Entertainments anzuschlagen. Die moderierenden Zwischentexte des Conférenciers (Martin Bermoser) – mit Sebastian Prange als berlinerndem Sidekick Kutte („wie Nutte, nur mit K“) – umkreisen zwar ein ums andere Mal das Laster, den Glamour und die unbändige Freiheit jenes Jahrzehnts, doch der vielfach beschworene Rausch, die Erotik und die Sexisness bleiben Behauptung. Und wie in „Cabaret“ nimmt auch in „Berlin Berlin“ alsbald der vielzitierte ausschweifende „Tanz auf dem Vulkan“ ein braunes Ende. Ein Störenfried krakeelt „Lügenpresse“ und „Negerjazz“, und hinter einer überdimensionalen Hakenkreuzfahne erahnen wir schattenhaft die Vertriebenen, Emigrierten und Ermordeten, die Werner Richard Heymanns Slowfox-UFA-Filmschlager „Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bißchen Glück“ zu einer sehnsuchtsvolles Abschiedsballade werden lassen.

Weil man einen Entertainmentabend aber freilich nicht so düster ausklingen lassen mag, setzt Biermeier geradezu folgerichtig ein Lied an den Schlusspunkt, das diese Show wohl erst ermöglicht hat: „Asche zu Asche“, den fraglos furiosen Titelsong von „Babylon Berlin“, von dessen Originalchoreografie man auch gleich großzügig Anleihen genommen hat. Wie hat Christoph Biermeier in seinem PR-Interview noch gesagt? „Wir erleben das authentische Berlin“. Authentisch meint also vor allem, die Bilder und Klischees, wie sie nicht zuletzt auch durch „Cabaret“ und „Babylon Berlin“ kolportiert und verfestigt worden sind.

©2019
Fotos: Ritter von Lehenstein

Bis 8. Januar im Admiralspalast Berlin. Weitere Aufführungen in München (Deutsches Theater, 7.-19.2.), Köln (Musical Dome, 21.1.-2.2.2020), Düsseldorf (Capitol Theater, 4.-9.2.), Hamburg (Kampnagel, 11.-16.2.), Stuttgart (Theaterhaus, 18.-23.2.).

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