Vernügungstempel und Lasterhöhle

Das Berliner Wintergarten Varieté spannt mit der neuen Show „20 20“ den Bogen von den alten zu den neuen zwanziger Jahren

von Axel Schock

BERLIN – Wie bekommt man Tiefsinn und Ernsthaftigkeit in eine Show, die ihrem vergnügungswilligen Publikum ja vor allem einen bunten Reigen artistischer Highlights und flirrendes Entertainment bieten möchte? Markus Pabst, der zusammen mit Pierre Caesar, für die neue Produktion im Berliner Wintergarten Varieté verantwortlich zeichnet, behilft sich mit Zitaten von Erich Kästner bis Kurt Tucholsky. Besser als jene warnenden, klaren Zeitanalysen und Bonmots könnte es auch ein gegenwärtiger Autor wohl kaum formulieren. Doch so uninspiriert und lehrmeisterlich, wie Pabst als Conférencier diese Texte auf der Bühne aus einem Notizbuch vorliest, bleibt das doch recht aufgesetzt.

An anderer Stelle wird er die beiden Männer mit dem markanten Bärtchen, Hitler und Chaplin, miteinander vergleichen: der eine brachte Millionen zum Lachen, der andere Millionen ins Grab.
Für ihn sei wichtig, das Lebensgefühl der Zwanziger von damals und von heute zu zeigen mit all seinen Unterschieden, dass man Sexualität frei ausüben kann, dass Männer High Heels tragen können“, hatte Pabst im Vorfeld seine Intention formuliert. „Aber mir ist genauso wichtig, dass man aufmerksam darauf macht, wohin das in den 1920er Jahren geführt hat, und ich hoffe, dass wir es diesmal besser machen.“
Seine Mahnung vor wieder erstarkenden rechten Kräften, die seinerzeit die Weimarer Republik zu Fall brachten und sein Plädoyer für gesellschaftliche Vielfalt statt Einfalt, sind fraglos wichtig und richtig, aber kommen auch etwas unbeholfen daher.

An eigenem Format gewinnt diese Show dafür an anderer Stelle. Im Gegensatz beispielsweise zur Tourneeproduktion „Berlin Berlin“, die derzeit durch die Lande reist, versuchen Pabst und Caesar erst gar nicht, den vielbeschworenen Tanz auf dem Vulkan nachzustellen. Freilich wird auch im Wintergarten auf Liedgut von Marlene Dietrich und den Comedian Harmonists nicht verzichtet. Doch im Vordergrund steht nicht der Anspruch einer nostalgischen Zeitreise, vielmehr will man hier mit den Mythen dieser legendären Dekade, der überlieferten Aura und dem kulturellen Erbe spielen. So überrascht es denn auch nicht, dass einmal mehr – auf Songs aus dem Musical „Cabaret“ zurückgegriffen wird. Auf Songs also, mit denen John Kander und Fred Ebb in den 70er Jahren eine eigene kondensierte Version und Vision dieses Berlins zwischen Rausch und Abgrund schufen.

Die Eröffnungsnummer von „20 20“ knüpft denn auch ganz unverhohlen an die Welt des „Kit Kat Clubs“ an. In Art-Déco-Kulissen und zu den Klängen der virtuosen Liveband zaubert das Ensemble das atmosphärische Bild eines schummrigen Nachtklubs, voll lasziver Erotik und mit einem Hauch Freak-Show. Ein ausgedehntes Opening, bei dem Tanz, Artistik und Gesang fließend ineinandergreifen und beispielsweise ein Strip mit akrobatischen Verrenkungen einhergeht. Dieses Niveau des revuehaft durchchoregrafierten Mit- und Durcheinanders können Pabst und Caesar allerdings nicht über längere Strecken halten. Dafür aber sorgen die hochklassigen Artisten immer wieder für Lichtblicke und Überraschungen – sei es an Stangen, Strapaten oder am Chinesischen Mast. Mit den Collins Brothers gibt es Retro-Comedy-Nummern, über die sich auch vor 100 Jahren schon das Publikum amüsiert haben könnte. Und mit ihrem veralbernden Zaubertrick der Zersägten Jungfrau lüften sie en passant sogar das Geheimnis dieses magischen Klassikers. Der chinesische Tenor Ye Fei gibt, ganz klassisch im Frack und völlig ironiefrei, die „Turandot“-Arie „Nessun Dorma“ zum Besten, und Dennis Mac Dao wirbelt dazu einen Solotanz im Federsturm. Ganz ohne tieferen Sinn, aber ein zweifellos eindrucksvolles Bild.

Ohnehin verliert sich der rote Faden, den die Show dem Zuschauer auslegt, im weiteren Verlauf des Abends immer mehr. So schrieb Fats Waller sein „Aint’misbehavin“, als die 1920er bereits ein vergangenes Jahrzehnt waren. Sei’s drum, die Broadway-erprobte Sängerin Yamil Borges liefert eine exquisite, verrucht-laszive Version dieses Jazzklassikers. Um Verruchtheit bemüht sich die Show ohnehin allenthalben und mit großem Nachdruck.

Die Burlesque-Tänzerin Banbury Cross entledigt sich immer wieder aufs Neue dem ohnehin Wenigen, das sie bei ihren Aufritten auf dem Leib trägt. Girma Tsehai hat immerhin eine Handvoll Hüte, mit denen er nackt wie er ist, jonglierend seine Scham bedeckt. David Pereira lässt sich bei der Ganzkörperrasur an den besonders intimen Stellen vom Publikum helfen. Und auch beim akrobatischen Wasserballett in einer Plexiglas-Halbkugel ist die Erotik der überaus biegsamen und wohltrainierten Körper ein nicht unwesentlicher Teil der Gesamtwirkung dieser ausgelassenen und zugleich diszipliniert durchgeführten Nummer.

Doch trotz dieser übermütigen Feier der Sittenlosigkeit: In eine Lasterhöhle lässt sich der Wintergarten partout nicht verwandeln. Das Schwüle, Schmutzige, Lüsternd-Laszive, von dem Zeitgenossen über die Berliner Varieté-Welt der 20er Jahre berichteten, lässt sich so einfach nicht (wieder)herstellen. Es bleibt bestenfalls Zitat. Die Vorstellungen von Moral und deren Grenzen, die man gegebenenfalls zu überschreiten wagt, haben sich in den letzten 100 Jahren zu oft verändert und eben auch erweitert. Das zu zeigen, ist der Job von Jack Woodhead, der als exaltierter Allround-Künstler diese Show zusammenhält und in der Gegenwart verankert. Mal mit Federschmuck oder strassbesetzter Uniformmütze auf dem Haupt, mal mit Hermelin um den Hals und kaum den Körper bedeckender Netzstrumpf-Haute-Couture am Leib, gibt der Brite die queere Rampensau.

Woodheads Energie ist geradezu beängstigend. Seine eigenen – deutsch-englischen – Chansons sind (noch nicht) die ganz großen Songs; er aber ist fraglos ein souveräner Entertainer mit unverkennbar eigenem Stil und Ausdruck. Als Tänzer, Pianist oder Flötist fügt er sich dezent ins Ensemble, um als Gastgeber und Sänger umso mehr die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dann präsentiert sich Woodhead flamboyant, exaltiert, mit Freuden sittenlos und lässt in manchen Momenten etwas Wahnhaftes und Gefährliches durchschimmern. Dass ihn noch niemand als Conférencier im Musical „Cabaret“ besetzt hat, verwundert; dass er in „20 20“ die zentrale Figur der Show ist, hingegen nicht. Wenn hier der Brückenschlag zwischen den beiden titelgebenden Jahrzehnten gelingt, dann vor allem durch ihn.

©2020

Fotos: Ritter von Lehenstein

„20 20 – Die 20er Jahre“. Wintergarten Berlin, Potsdamer Straße 96.

wintergarten-berlin

Ein Gedanke zu “Vernügungstempel und Lasterhöhle

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..